Erwartungen und wie schnell wir sie an andere stellen

Für mich ganz untypisch, habe ich innerhalb der letzten Woche drei Filme gesehen. Angefangen hat alles am Donnerstag mit Being Mario Götze, am Freitag ging es weiter mit Boyhood und endete am Samstag mit 3 Tage in Quiberon. Jeder Film hat mich auf seine Weise beeindruckt und unterschiedlicher hätten sie nicht sein können, doch geht es in allen um eins: Erwartungen.

Bereits in frühen Jahren fängt es an …

In der Eingangsszene von „Boyhood“ erlebt Filmmutter Patricia Arquette mit ihrem Sohn Mason das, was mir und sicherlich auch anderen Eltern im Alltag mit ihren Kindern häufig widerfährt oder vielmehr widerfahren ist. Ab Kindergarten und spätestens in der Schule wird uns gesagt, was unsere Kinder tun und lassen sollen. Bereits früh ist ein bestimmtes Verhalten gewünscht, gibt es Regeln und Grenzen, die den Einzelnen in seiner Kreativität und seiner Individualität schnell beschneiden.

Im Fall des 6-jährigen Mason hat seine Lehrerin wenig Verständnis dafür, dass ihr Spitzer kaputt ist, nur weil er herausfinden wollte, ob er auch Steine anspitzen könne. Seine Erklärung, er wollte die Steine für seine Sammlung haben, lässt mich sehr schmunzeln, ist aber nur einer von vielen Momenten, der zeigt, wie unterschiedlich die Bedürfnisse jedes Einzelnen sind.
Der Film begleitet Mason, seine Schwester und seine Eltern (mit ihren neuen Partnern) über 12 Jahre und zeigt das Erwachsenwerden mit Höhen und Tiefen. Außergewöhnlich ist, dass die Schauspieler, neben Arquette spielt Ethan Hawke den Vater, im Laufe der Zeit selbst wachsen und älter werden. Regisseur Richard Linklater ist eine wunderschöne, filmische „Langzeitstudie“ gelungen, die zeigt, dass Erwartungen zum Leben dazugehören.

In „3 Tagen in Quiberon“ geht es um das Treffen von Romy Schneider mit ihrer Freundin Hilde, Stern-Journalist Michael Jürgs und Fotograf Robert Lebeck in Frankreich. Sie hält sich dort zur, heute würde man sagen, Rehab auf und gibt ihr legendäres Interview, in dem sie über die Ambivalenz der öffentlichen und der privaten Person sehr ehrlich spricht. Auf der einen Seite ist da Romy Schneider, einer der erfolgreichsten Schauspielerinnen. Auf der anderen Seite Romy, die seit ihrem 14. Lebensjahr keine Kindheit mehr hat, nur von ihrer Mutter und deren Mann „gesteuert“ wird und im Alter von 20 Jahre zusammen mit Alain Delon durchbrennt. Durch diesen „Ausbruch“ nabelt sie sich zwar von ihrer Familie ab, die an sie gestellten Erwartungen ziehen sich dennoch durch ihr gesamtes Leben.

… und gehört zum Fußball dazu

Aljoscha Pause (LINK) hat den Fußballer Mario Götze sieben Monate begleitet. In „Being Mario Götze“ zeigt er, was es für einen Spieler bedeutet in jungen Jahren, mitten in der fußballerischen Entwicklung, das WM-Tor zu schießen. Mit dem großen Erfolg sind ab diesem Moment konkrete Erwartungen verbunden, die es zu erfüllen gilt.
Was soll danach noch kommen, wenn das die Messlatte für alles ist? Egal, was Mario Götze macht, es reicht nicht aus.

Mich beeindruckt, wie er in seinem Alter mit der Situation umgeht. Mich freut, dass er den Spaß am Fußball nicht verliert. Mich verwundert nicht, dass er unter diesem Druck krank wird, der Körper streikt. Ich möchte nicht in der Situation seiner Eltern stecken. Mit Anschauen und Aushalten zu müssen, was um meinen Sohn herum passiert und wie über ihn gesprochen/geschrieben wird, ist nicht einfach. Denn Zuhause ist er vermutlich immer noch der Mario …

Der Umgang mit Fußballern

Wieso nehmen wir uns gerade bei Sportlern, besondern bei Fußballern heraus, über alles und jedes, was sie machen zu urteilen? Identifizieren sich zu viele mit dem Sport? Glauben sie, das auch zu können, was „die da“ auf dem Fußballplatz machen? Ist es Neid?
In der Doku bezeichnet Sportjournalist Oliver Müller Götze als „Veredler eines Spiels“,
[…] der, wenn es einer Mannschaft gut geht, noch einmal etwas Besonderes macht … Er ist aber keiner, der ein Spiel an sich reißt, umbiegt oder bestimmt. […]
Liegt es in unserem Naturell, in jemanden etwas hineinzuinterpretieren, ihn zu einem Vorbild  zu machen – egal ob er es ist oder nicht, ob er will oder nicht?

Ich stimme allen zu, dass viele Profis utopisch viel Geld verdienen.

Deswegen mit ihnen tauschen? Nie im Leben!

Aus dem einfachen Grund, dass ich es nicht ertragen könnte, dass jeder, der mich NICHT kennt, eine Meinung zu mir hat, die Presse über jede Kleinigkeit, die ich mache, berichtet. Gerade von den jungen Spielern, ähnlich wie von Romy Schneider nach ihren „Sissi“-Erfolgen, wird oftmals schon so viel verlangt: Erfolg, Verantwortung, Leistung, Beständigkeit.

Ein anderer Blickwinkel kann manchmal helfen

Es ist nur hypothetisch, aber wechseln wir mal die Perspektiven und gehen wir ehrlich in uns. Würden wir es aushalten, wenn die ganze Nation über uns spricht – positiv wie negativ? Hätten wir das in dem Alter geschafft? Wie lange würden wir diese Übergriffigkeit ertragen?
Kritik an seiner Arbeit kennt vermutlich jeder. Wie fühlt es sich an, wenn der Chef uns nach unserem letzten Auftrag zur Seite nimmt (weil er Führungsqualitäten hat und weiß, dass man das nicht vor den Kollegen macht) und uns ehrlich sagt, dass er nicht zufrieden mit uns ist? Meist nicht gut, oder? Auch wenn es wertschätzend und wohlwollend formuliert ist, zeigen sich Gefühle wie Wut, Verletzung, Enttäuschung, Unsicherheit, Traurigkeit, Kontrollverlust, Existenzängste …

Wir werden auch zukünftig unseren „Senf“ zu allem geben, was der Fußball so bietet. Vielleicht kann der Film von Aljoscha Pause ein bisschen dazu betragen, dass wir wohlwollender und respektvoller mit Fußballern in der Öffentlichkeit umgehen, denn wir kennen sie nicht, wissen oftmals nicht, in welchen Umständen sie stecken.
Meiner Meinung nach reicht im Fall von Götze der Hinweis von Sportreporter Tom Bartels im Interview mit Thomas Broich im Anschluss an die Kinovorführung in Köln nicht aus, dass es Mario Götze gut tun und ihm Ruhe verschaffen würde, ein bisschen weniger auf Instagram zu sein. Ich glaube, so einfach ist es nicht. Wir reden hier von einem 26-Jährigen, der in einer anderen Generation aufgewachsen ist, in der soziale Medien einfach dazugehören. Anders als bei uns …