Was Jugendfußballer zum Lernen brauchen

Heute Morgen lese ich im Kölner Stadt-Anzeiger Nr. 128, vom 4.6.2019, Seite 15 unter dem Titel „Scheitern ausgeschlossen“ einen Artikel über Kai Havertz. Da ist es wieder … Scheitern … Dieses Wort, was im Zusammenhang mit Fußball so oft in Verbindung gebracht wird und bei mir schon Druck hochkommen lässt. Wie fühlt sich erst einmal derjenige, der damit gemeint ist?

Ich finde es großartig, wenn junge Spieler ihren Weg in den Profifußball machen. Und dabei noch sie selbst bleiben können UND viel Spaß haben.

Bei Havertz scheint es, als ob ihm beides gelingt.

Er ist „Chef im Leverkusener Offensivspiel“ und Nationalspieler. Er hat zusammen mit unserem Sohn in der B-Jugend gespielt und ist der Einzige der Jungs, die ich in den Jahren getroffen habe, der diesen Werdegang verfolgt. Er scheint die glorreiche Ausnahme. Once in a lifetime …

Der erste Absatz des Artikels macht mich nachdenklich. Es geht darum, dass „… die Spieler früher mit 20 noch weit entfernt von fußballerischer Reife waren und dass mit 20 im Fußball alles noch infrage stand…“

Ist heute definitiv nicht mehr so!

Ich glaube, Poldi und Schweinsteiger könnten den Spaß, den wir von ihnen im „Sommermärchen“ gesehen haben, heute nicht mehr machen, ohne aussortiert zu werden.

Mit 20 musst Du es geschafft haben

Wer heute mit Anfang 20 noch nicht den Profivertrag in der Tasche hat, der hat es landläufig nicht geschafft. Vielen ist nicht bewusst, was sie jungen Menschen mit solchen Aussagen antun. Denn eine Fußballausbildung ist nicht mit Abschluss der Jugend beendet. Ich sehe sie eher als gute Basis, auf der aufgebaut wird und sich die Spieler weiter entwickeln.

Eben diese Entwicklung verlangt der Fußball von jungen Spielern im „Fast Forward-Modus“.

Und wer nicht schnell genug ist, der ist draußen. Jann-Fiete Arp, HSV-Spieler, ist doch wieder so ein Beispiel, wie schnell ein Spieler zu DEM Talent gemacht wird. Wenn er dann Zeit für seine fußballerische und persönliche Entwicklung braucht – und sind wir mal gerade bei Letzterem ehrlich: Bei wem ist sie rund wie ein Fußball gelaufen? Bei mir jedenfalls nicht – fallen alle über ihn her. Dann wird von Scheitern, nicht geschafft, hat die Hoffnungen nicht erfüllt, etc. gesprochen …

Der Sprung ist nicht leicht

Für viele Jugendspieler ist der Übergang zu den Senioren schwierig und sie sind nicht wirklich gut vorbereitet auf das, was kommen wird. Einige sind überfordert mit dem, was verlangt wird. Bereits der Weg in eine U21 oder U23 ist nicht für alle leicht. Fallen diese noch weg, wie soll es ihnen gelingen, direkt zu den 1. Mannschaften zu kommen? Das wäre ja so, als wenn ein Azubi nach seiner Ausbildung Abteilungsleiter innerhalb eines Konzerns wird. Natürlich bestätigen Ausnahmen die Regel, aber dennoch eher undenkbar. Ich weiß, es hat meist finanzielle Gründe, weswegen Vereine ihre 2. Mannschaften abmelden. Dennoch passen Geld sparen und trotzdem erfolgreiche Fußballer hervorbringen nicht gut zusammen.

Früher war es für die meisten Spieler der normalste Weg in die nächsthöhere Liga zu gehen und dort zu spielen. Heute kommen sie mir vor wie Grashüpfer, die mit einem Sprung möglichst weit hüpfen sollen. Obwohl es gar nicht so viele Angebote für so viele Spieler gibt. Und die Verantwortlichen wundern sich, dass es nicht mehr Jungs schaffen, es viele Drop-outs gibt bzw. der Jugendfußball zur Zeit nicht die Ergebnisse bringt, wie gewünscht.

Entwicklung braucht Zeit

Wieso lässt man den Jugendspielern nicht die Zeit, die sie brauchen, ohne unter dem beständigen Druck des Scheiterns zu stehen? Entwicklung braucht Zeit, gleichzeitig eine gute Basis und Vertrauen. Oftmals bietet genau das eine U23, lässt die Spieler Lebens- und Spielerfahrungen sammeln und gibt ihnen Entwicklungsspielraum.

G9 im Jugendfußball?

Betrachten wir junge Menschen außerhalb des Fußballs, verlangen wir von ihnen nicht, dass sie nach dem Abschluss der Schule so „fertig“ ausgebildet sind, dass sie direkt in einen Job einsteigen können. Sie haben die Möglichkeiten, Praktika oder Ausbildungen zu machen oder ein Studium zu beginnen. Gerade die Einführung von G8 in den Gymnasien und dem mittlerweile Zurückrudern zu G9 zeigt, wie wichtig Zeit fürs Lernen ist. Das merken nicht nur die SchülerInnen, sondern auch die Lehrer. Vielleicht braucht es diesen Schritt zurück auch wieder in einigen Vereinen, um ihren Spielern eben genau das zu geben: Zeit zum Lernen.

Und für Kai Havertz hoffe ich, dass er sich weiter so entwickeln kann und auch ein Tief durch- und ausleben darf, sollte er mal eins haben …