Hinfallen gehört dazu, aber auch jemand der einem aufzeigt, wie man wieder aufsteht

Martin Jedrusiak-Jung habe ich vor ein paar Wochen auf einer Trainerfortbildung kennengelernt, auf der wir beide als Referenten eingeladen waren. In seinem Vortrag hat er u. a. über Individualität im Jugendfußball gesprochen. Ein Thema, auf das wir gerade in der Ausbildung von Kindern und jungen Menschen – nicht nur im Fußball – verstärkter schauen sollten.

Martin ist Diplom Sportwissenschaftler an der Deutschen Sporthochschule in Köln und arbeitet seit 2012 hauptamtlich als Fußballdozent im Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten (DSHS-Köln). Während seiner Studienzeit unterstütze er u. a. das Team Köln (DFB-Scouting) bei der Analyse der EM 2008 und WM 2010. Im Rahmen seiner über 20-Jährigen Vereinstätigkeit als Sportlicher Leiter und Trainer, u. a. in der B-Junioren Bundesliga beim Bonner SC und dem FC Hennef 05, ist er seit 2011 Mitglied im Trainerlehrstab des Fußballverbandes Mittelrhein. In der Saison 2016/2017 war Jedrusiak-Jung Co-Trainer der U16-Nationalmannschaft, und in der Saison 2017/2018 Co-Trainer der U17.

In Deinem Vortrag hast Du erwähnt, dass Brasilien, Belgien und England nicht besser waren als die deutsche Mannschaft, sondern individueller. Was genau meinst Du damit?

Das Sportspiel Fußball ist zwar aufgrund seiner Spielidee und Regeln ein sehr einfaches Spiel, auf höchstem Leistungsniveau aufgrund seiner Voraussetzungen und Anforderungen jedoch sehr komplex. Neben den motorischen und konditionellen Fähig– und Fertigkeiten ist die kognitive, soziale und psychische Ebene auch ein sehr wichtiger Faktor für einen erfolgreichen Weg. Wenn ich aber von Individualität spreche, meine ich allen voran die Persönlichkeitsmerkmale wie z. B. Mut, Zielstrebigkeit, Leidenschaft, Selbstkritik etc. Es sind inzwischen Nuancen, die ein Spiel entscheiden können. Dabei geht es dann auch nicht nur um Fehlervermeidung, sondern auch um eine gewisse Risikobereitschaft und den Willen etwas als Individuum erreichen zu wollen. Einfach nur mehr Kilometer als der Gegner zu laufen reicht nicht aus.

Nach dem frühen WM-Aus werden die Rufe laut, dass sich die Jugendausbildung verändern muss. Du hast bis Sommer 2018 die U17-Nationalmannschaft betreut. Was sollte sich verändern, damit mehr Individualität entstehen kann?

Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland immer noch zu den führenden Nationen der Welt gehört und der aktuelle Stand nur eine Momentaufnahme ist. Nicht nur alleine die Infrastruktur und die Professionalität, mit der in sehr vielen Bereichen gearbeitet wird (DFB, DFL, Wissenschaft und Wirtschaft) sind sicherlich einzigartig. Der zu Beginn des Jahrtausends eingeschlagene Weg, samt aller Ideen und Konzepte, war in der Konsequenz genau der richtige. Trotzdem ändert sich, neben dem Fortschritt des Spiels, die Gesellschaft mit ihren Normen und Werten auch rasant, was zur Folge hat, dass auf dieser Ebene von allen Beteiligten, Anpassungen stattfinden müssen.

Neben der Leistung gehören Respekt und Fair Play zu den fundamentalen Werten des Sports.

Diese sollten in der Ausbildung noch ausgeglichener Beachtung finden und das fußballspezifische Anforderungsprofil mehr ergänzen.

Sind eigentlich die individuellen Spieler gleichzeitig die Spieler mit Ecken und Kanten? Wie Pogba, Sané oder Ibrahimovic?

Letztendlich ist jeder Mensch individuell, weil er einzigartig ist. So hat jeder auch „Ecken und Kanten“, lebt sie aber auf verschiedene Arten aus. Eine gewisse Extravaganz muss aber nicht negativ sein, solange in einer Mannschaftssportart wie Fußball, Platz für verschiedene Einstellungen bleibt. Es ist allerdings auch ein schmaler Grat zwischen selbstbewusst und arrogant.

Viele waren verwundert, dass Joachim Löw auf Leroy Sané verzichtet hat. Hätte er helfen können? Und wenn ja, wie?

Das ist reine Spekulation. Wahrscheinlich muss man das aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Bei der Zusammenstellung, eines Kaders für ein Turnier, spielen viele Faktoren eine Rolle. Die Verantwortlichen waren, im Hinblick auf die WM, zu diesem Zeitpunkt von dieser Entscheidung überzeugt. Aus Sicht der anderen 80 Millionen Bundestrainer/-innen hätte man sich die Spielweise von Sané gewünscht. Das Ergebnis allerdings von einer Person abhängig zu machen sehe ich sehr fraglich. Ich bin davon überzeugt, dass das Ausscheiden auch mit Sané nicht zu verhindern gewesen wäre.

Ich habe gehört, dass bei Ajax Amsterdam Jugendspieler bewusst vor Herausforderungen gestellt werden, damit sie eigene Strategien entwickeln können. Wie sieht das im deutschen Juniorenfußball aus?

Es gibt sicherlich Ausbildungsstrategien im deutschen Juniorenfußball, die die Spieler vor ähnliche Herausforderungen stellen. Ich bezweifle allerdings, wie nachhaltig da etwas hängen bleibt. Es reicht nicht, „gemeinsam ein Floß zu bauen und damit in der Gegend herum zu paddeln“. Das ist möglicherweise in dem Moment eine nette Abwechslung oder Ergänzung, aus meiner Sicht aber nicht prägend. Viel wichtiger ist der gemeinsame und respektvolle Umgang miteinander und das in allen Instanzen. Leider gibt es bereits im Juniorenbereich zu viele Einflüsse (u. a. Eltern, Trainer, Spielerberater & Medien), die auf die Spieler einwirken, die eine klare Rolle und Linie vermissen lassen.

Anstatt sich an positiven Vorbildern zu orientieren, gehen viele den Weg des geringsten Widerstandes und werden dazu auch noch ermutigt.

Wir reden bisher über die veränderte Ausbildung der Spieler. Wie sieht es bei den Trainern aus?

Es gibt eine sehr konsequent erarbeitete Ausbildungspyramide der verschiedenen Lizenzstufen, sodass in jedem Ausbildungszeitraum verschiedene Bausteine der Ausbildung vermittelt werden. Auch hier haben immer wieder Anpassungen stattgefunden, die natürlich aufgrund der Kürze der Zeit (i.d.R. 3-4 Wochen pro Lizenzstufe) nur einen kleinen Bruchteil der Arbeit eines Trainers abdecken können. Ich glaube, dass in diesem Bereich noch mehr mit Hospitationen & Mentoren gearbeitet werden könnte, die einen Trainer über verschiedene und längere Zeiträume begleiten. Dabei ist es keine Schande Elemente von anderen Personen zu „kopieren“. Entscheidend ist es, das Gelernte mit eigenen Erfahrungen und persönlichen Ideen zu optimieren und situationsgerecht anzuwenden. Nobert Elgert (Trainer Schalke U19) hat mal gesagt:

“Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“

(Weiter-)Entwicklung ist für Trainer genauso wichtig wie für jeden Spieler.

Die neue Garde der Trainer sind die sogenannten Laptop-Trainer? Braucht es den Laptop oder worüber muss ein Jugendtrainer verfügen, um seine Spieler optimal ausbilden zu können?

Auch über dieses Thema haben sich zuletzt einige Experten ausgelassen. Polemische und respektlose Aussagen halten sich dabei medial leider besser als sachlich-konstruktive Diskussionen. Trotzdem steckt in dieser Debatte auch ein Funken Wahrheit. Ich empfinde die Trainerausbildung in Deutschland als einen sehr wichtigen Bestandteil der Arbeit im Berufsfeld Fußball. Dabei muss aber klar unterschieden werden, in welchem Bereich gearbeitet wird, und somit welche Kompetenzen und Expertise der jeweilige Trainer haben muss. Es ist unmöglich nur über Lehrgänge alle Kompetenzen und alles Nötige an Rüstzeug zu erlernen, was benötigt wird, um ein bewegungstalentiertes Kind bis ins Erwachsenenalter auszubilden. Es bedarf viel mehr der Möglichkeit des Transfers zwischen Theorie und Praxis, um zu lernen. Wenn man dann auch noch mit einem Laptop umgehen kann, ist das sicherlich nicht von Nachteil 😉

Aus den Erfahrungen, die ich mit unserem Sohn erlebt habe, sind Spieler, die ihre Meinung vertreten, nicht unbedingt die Lieblingsspieler der Trainer. Was rätst Du einem Spieler, wie er sich verhalten soll?

Ich kann das aus meiner Erfahrung so nicht unterstreichen. Ich empfinde mündige Spieler sehr wichtig für die Entwicklung aller Beteiligten. Es ist entscheidend, andere Meinungen neben seiner eigenen ebenfalls zu akzeptieren, oder sich mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen. Wenn man dabei noch den Spieler abholt, umso besser. Allerdings kann man in einer Mannschaftssportart nicht immer alles „endlos“ diskutieren, denn letztendlich hat man als Trainer die Verantwortung für viele Spieler und verschiedene Bereiche, denen man gerecht werden muss und Entscheidungen treffen soll.

In der Jugend haben die Spieler bisher gelernt, nach einem festen System zu spielen. Ich erinnere mich an Situationen meines Sohnes in der U17-/U19-Bundesliga in denen sogar ich erkannte, dass es andere Möglichkeiten des Spiels gibt. Seine Erklärung war oftmals die, dass „der Trainer das aber so will!“. Wie werden Spieler damit umgehen, dass sie auf einmal „Freiheiten“ haben?

Damit die Spieler freie und situationsgerechte Entscheidungen treffen können, müssen diese auf Basis von Erfahrungen zustande kommen.

Das bedeutet, dass man auch Fehler machen darf.

Dazu sollen die Spieler aber natürlich von Experten angeleitet werden. Ich habe noch kein Baby gesehen, das auf Anhieb laufen konnte. Hinfallen gehört dazu, aber auch jemand der einem aufzeigt, wie man wieder aufsteht.

Wie wichtig ist die Individualität über die Fußballausbildung hinaus? Mir fällt das Stichwort Freizeit ein. In dem Bereich gibt es viele „Verbote“ und wir wissen alle, dass gerade die dazu verführen, ausprobiert werden zu wollen. Peter Stöger, damals noch Trainer des 1. FC Kölns, hat mal in einem Interview gesagt, dass er seinen Spielern nicht sagen will, ob und wie lange sie feiern sollen, dass sie das selber für sich entscheiden müssen, auch mit den entsprechenden Konsequenzen.

Auch hier muss man die verschiedenen Ausbildungsstufen unterscheiden. In der Regel bin ich aber davon überzeugt, dass Regeln dazu gehören, um erfolgreich zu sein. Je mehr ein Spieler sich mit diesen identifiziert, umso nachhaltiger werden sie von jedem einzelnen auch gelebt.

Allerdings dürfen Regeln nicht zu einer absoluten Einschränkung des Individuums führen.

Meiner Meinung nach gilt eine gewisse Eigenverantwortung, die durch den Trainer initiiert werden kann. Dabei sind Vertrauen und der nötige Respekt eine wichtige Grundlage.

Wenn ich mich frei bewege, gehört dazu, dass ich eigene Entscheidungen treffe, die nicht immer nur zum Erfolg führen. Wie wichtig ist es für die Spieler Fehler zu machen und darüber eigene Erfahrungen zu sammeln?

Da finde ich ein Zitat vom ehemaligen US-Basketballspieler, Michael Jordan, überragend:

„I’ve missed more than 9000 shots in my career. I’ve lost almost 300 games. 26 times, I’ve been trusted to take the game winning shot and missed. I’ve failed over and over and over again in my life. And that is why I succeed.“

Ohne Fehler kann es keinen Fortschritt geben. Entscheidend ist es aber auch aus Fehlern zu lernen.

Im Jugendfußball braucht es nicht nur die Trainer und die Spieler, sondern sind auch die Eltern ein wichtiges Element. Wie können sie ihre Kinder unterstützen?

Dabei ist das Wort Unterstützen das Entscheidende. In erster Linie sollten sie empathisch sein und reflektieren können. Das bedeutet, dass auch sie dem Kind Fehler zu gestehen sollten, um es auf dem Weg zu einer selbstständigen Persönlichkeit begleiten zu können.

Nach den Misserfolgen in der Europameisterschaft im Jahr 2000 hat es ein paar Jahre gedauert, bis die deutsche Mannschaft wieder an alte Erfolge anknüpfen konnte. Wie lange glaubst Du, wird es jetzt dauern, bis sie sich aus ihrem Tief herausgearbeitet hat?

Bezogen auf die Nationalmannschaft sehe ich ein schlechtes Turnier nur als kurzfristiges „Tief“. Nur weil man eine schlechte Weltmeisterschaft gespielt hat, sollte man nicht alles infrage stellen und kurzfristige Trends sofort kopieren. Ich bin überzeugt, dass nun viel konsequenter als in der Vergangenheit, die richtigen Schlüsse gezogen und die nächsten sportlichen Herausforderungen gemeistert werden. Dafür haben wir in Deutschland sehr viele überragende Fußballer. Bezogen auf die Jugendausbildung, erhoffe ich mir, im Sinne der vielen Talente, eine engere Zusammenarbeit zwischen den Vereinen und Verbänden. Die Spieler müssen in den entsprechenden Altersstufen, altersgerecht noch besser ausgebildet werden und vor äußeren Einflüssen besser geschützt werden.

Über die Einflüsse haben wir bereits gesprochen. Wie glaubst Du, kann und sollten die Spieler geschützt werden? Wer kann helfen?

Einen pauschalen Schutz wird es nie geben.

Im Jugendbereich müsste es aber noch mehr die Verantwortung der Verbände und Vereine untereinander sein, eine bessere Aufklärungsarbeit bei Eltern zu leisten und über Chancen und Risiken des Leistungssports aufzuklären.

Natürlich müssen dabei auch die Eltern verantwortungsbewusst handeln. Dazu gehört dann auch eine konsequentere Umsetzung von Richtlinien – ohne „Hintertürchen“. Alle Parteien müssen sich z. B. die Frage stellen und konsequent beantworten, wie sinnhaft ein Vereinswechsel eines Kindes (U14) ist, das komplett aus dem sozialen Umfeld gerissen wird und ein paar Hundert Kilometer weiter gegen den gleichen Ball treten soll?!

Martin, ein gelungenes Schlusswort! Ich danke Dir herzlich für das Gespräch.