Wie viel Selbstständigkeit will ich für mein Kind?

Ich habe vor ein paar Tagen einen interessanten Beitrag gehört: An einem Gymnasium in Siegen Weidenau (NRW) absolvieren Schüler der 9. Klasse ein so ganz anderes Schülerpraktikum. Sie müssen 18 Tage mit 150,00 € auskommen. Das Geld bekommen sie von ihren Eltern. Hört sich erst mal ganz easy und verlockend nach Abhängen an. Ist es aber nicht, denn die Jugendlichen verlassen ihr gewohntes Umfeld. Mit der Planung beginnen sie dazu im 2. Halbjahr der 8. Klasse. Die Praktika gehen von Leben und Arbeiten auf einem Bauernhof oder in einem Kloster bis hin zu handwerklicher Unterstützung in einer Jugendherberge, Fahrradtouren durch Holland und Bergwanderungen durch die Alpen.

Ziel ist es die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zu fördern, ebenso die Kooperationsfähigkeit und Risikobereitschaft zu schulen.

Die SchülerInnen erlernen Rückschläge zu verarbeiten und Krisen zu meistern, wenn es nicht so läuft wie geplant. Auf viele Herausforderungen, denen sie sich im späteren Leben wahrscheinlich stellen werden, werden sie bereits hier vorbereitet. Vermutlich halten schon jetzt viele Eltern die Luft an …

Die Zuhörerreaktionen auf den Beitrag sind bunt gemischt. Von „Super, finde ich klasse!“ über „Lebensnah. Etwas, was in der Schule nicht vermittelt wird!“ bis hin zu „Sehe das schwierig, da eh schon viel Unterricht ausfällt.“ Die Aussage einer Mutter lässt mich aufhorchen: „Sind wir Eltern denn nicht in der Lage unseren Kindern Herausforderungen zu bieten, dass es so etwas wie diese Art von Praktikum benötigt?“

Loslassen ist nicht einfach
Ich bin davon überzeugt, dass viele Eltern ihre Kinder auf die Welt „da draußen“ vorbereiten. Sie lassen sie ihre Erfahrungen machen und Unbekanntes erforschen. Doch glaube ich, nur bis zu dem Punkt, den sie selbst gut kontrollieren können. Ja, wir wollen, dass unsere Kinder ihr „eigenes Ding“ machen, aber bitte ohne jeglichen Kratzer.

Wir haben oftmals einen so guten Weitblick – ähnlich einem Gepard auf der Jagd – dass wir schon Lösungen anbieten, bevor das Problem überhaupt existiert.

Oftmals lassen wir unserem Kind nicht die Möglichkeit, sich auseinanderzusetzen. Leider funktioniert das nicht bzw. nur bedingt.

Kleine Kinder, die laufen lernen, fallen immer wieder auf die Knie, bis sie erlernen, dass das Treppesteigen leichter und sicherer für sie ist, wenn sie sich am Geländer festhalten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das als Mutter/Vater nicht immer leicht ist. Es gab auch bei uns Schrammen, die schmerzhaft, aber unvermeidbar waren. Genau um diesen Lernprozess geht es, wenn unsere Töchter und Söhne älter werden. Nämlich aus der Situation für sich selbst herauszuziehen, was wichtig ist, es ihnen leichter macht oder ihnen verdeutlicht, was sie beim nächsten Mal anders machen wollen/sollen. Eben dieses Ausprobieren ohne „doppelten Boden“ finden wir nur außerhalb der Familie.

Auch im Fußball finde ich immer wieder Momente, in denen Eltern ihrem Bedürfnis folgen, alles zu tun, damit es ihrem Sohn oder ihrer Tochter gut geht.
Ein häufiges und altersübergreifendes Thema zum Beispiel ist: „Mein Kind hat zu wenig Spielzeit!“
Diese Tatsache kann die unterschiedlichen Gefühle hervorrufen: Wut, Enttäuschung, Frust, Ohnmacht, Traurigkeit … Vor allem dann, wenn der Fußball mit dem Familien- und Berufsleben nur unter großer Anstrengung zu vereinbaren ist. Es gibt verschiedene Reaktionen darauf, die gängigen sind:
– ich behalte meine Meinung für mich, was schon von starker Disziplin zeugt und große Bewunderung bei mir hervorruft
– ich äußere sie innerhalb meiner Familie
– ich bespreche das Thema mit anderen Eltern neben dem Platz, was meist zu „Rudelbildung“ führt, da andere Eltern bestärken oder ähnliches Problem haben
– ich bespreche es mit dem Trainer und möchte, dass sich die Situation verändert.

Den meisten von uns liegt erst einmal viel daran, dafür zu sorgen, dass dieses unschöne Gefühl ganz schnell wieder weggeht. Und wir machen uns viele Gedanken, wie uns das gelingen kann.

Oftmals vergessen wir dabei den, um den es hier wirklich geht – nämlich unser Kind.

Den Impuls das Geschehen erst einmal mit seinem Kind zu besprechen und zu hören, was er/sie sagt, findet bei wenigen Eltern statt. Wenn das Gespräch gesucht wird, dann eher um sich die elterliche Sicht bestätigen zu lassen. Eigentlich schade, denn die Haltung des Sohnes ist wichtig und oftmals eine andere. Hier wiederhole ich mich gerne: Es ist der Sport unserer Kinder und wir unterstützen sie. Es geht hier nicht darum, dass unsere Bedürfnisse befriedigt werden. Dennoch sollen auch wir Spaß daran haben.

Wie kann das nun gelingen?
Wie erwähnt, erst einmal hören, was der Sohn sagt und MÖCHTE. Denn die meisten Kinder und Jugendliche können ihre Leistungen in einer Mannschaft recht gut einordnen. Objektiv zu schauen, ob es Gründe für den unregelmäßigen Einsatz gibt, z. B. Verletzung, Krankheit, Trainingsrückstand, unregelmäßiges Training, Klausurenzeiten in der Schule, Durchhänger, etc.
Gleichzeitig sich selbst hinterfragen. Da helfen Ansätze wie: Wieso beschäftigt mich das so? Was genau macht mir Sorge? Wieso ist mir das so wichtig? Was würde ich mir wünschen? Werden bei mir alte Enttäuschungen, Verletzungen getriggert?

Sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, ist nicht einfach, hilft dennoch die Situation besser zu verstehen. Wer sich jetzt angesprochen fühlt, der befindet sich in guter Gesellschaft. Denn nicht immer gelingt das auf Anhieb und braucht Entwicklungszeit. Ich weiß, wovon ich spreche.

Die Aufgabe der Eltern 
Hier bei diesem Thema sind die beiden Hauptakteure der Spieler und der Trainer. Die Eltern haben eher die Rolle des Unterstützers inne, wenn die Einsatzzeit auch für den Spieler ein Thema ist, er nicht weiter weiß, das Gespräch mit dem Trainer vorbereitet wird oder vielleicht ins Stocken gerät.

Mir ist bewusst, dass einige Eltern das nicht gerne lesen bzw. es anders sehen. Gerne komme ich wieder zu meinem Eingangsthema. Auch im Fußball ist es wichtig, dass wir unseren Kindern Selbstständigkeit und Eigenverantwortung entsprechend ihrem Alter zugestehen. Je älter sie werden, desto bedeutsamer ist es für sie, sich erst mal der Situation zu stellen, zu überlegen, was er/sie machen kann. Was in einzelnen Fällen dazu führt, dass mein Kind nicht glücklich und zufrieden ist und ich den Impuls unterdrücken sollte, sofort Schützenhilfe leisten zu wollen. Würde vielleicht bedeuten, dass es öfter auf der Bank sitzt als ihm (und mir) lieb ist, es auf Strecke dennoch seine Eigenständigkeit schult. Und etwas eigenverantwortlich zu schaffen, ist doch ein großartiges Gefühl. Es stehen nun mal nur 11 Spieler auf dem Platz, sodass es irgendwann jeden mal ereilt und es zum Fußball dazugehört.

Übrigens, das Schülerpraktikum wird bereits an 40 Schulen angeboten …

Mehr zu diesen und anderen Thema findest Du in meinem Buch Ins Netz gegangen – Mein Leben mit einem Nachwuchskicker zwischen Schulbank und Torjubel.